„Eine sanfte Wiesenmulde, geteilt vom obstbaumbestandenen Oedheimer Bauernweg, der von der Neuenstadter Straße nach Oedheim führt, von flammenden, fast monumentalen Pappeln flankiert, zwischen Kornfelder und Hügel gebettet, mit Waldgruppen im Westen und Norden“ – so romantisch beschreibt Architekt Helmut Erdle den Teil des Neckarsulmer Stadtgebiets, der heute den Stadtteil Amorbach beheimatet. In dieses Gelände wurden in den Jahren 1953 bis 1955 mehr als 800 Wohneinheiten, Geschäftshäuser, zwei Kirchen, ein Kindergarten und eine Schule gebaut, fast 3.500 Personen fanden dort eine neue Heimat.
Am 24. September 2025 jährt sich die Einweihung der Siedlung auf dem Amorbacher Feld zum 70. Mal. Aus diesem Anlass lassen wir hier die letzten Jahrzehnte Revue passieren.
Wie kam es zum Bau?
Durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die Stadt und Landkreis Heilbronn besonders stark trafen, und den großen Zustrom von Vertriebenen und Flüchtlingen stieg die Wohnungsnot stark an. Insbesondere in Neckarsulm wurde die Wohnungsnot zudem durch die vielen Berufstätigen in der schnell wieder aufgebauten und sich vergrößernden Industrie verschärft, die ihre teils sehr weiten Wege zum Arbeitsort reduzieren wollten.
Der Landkreis erkannte als einer der ersten in der noch jungen Bundesrepublik die Notwendigkeit von Neubausiedlungen zur Ergänzung der wiederaufgebauten Wohngebäude. Ursprünglich war dafür die Erstellung einer solchen Siedlung auf dem Gelände des Hipfelhofs der damals noch selbstständigen Gemeinde Frankenbach (seit 1974 Ortsteil von Heilbronn) vorgesehen. Nach dem Scheitern dieser Bemühungen regten Landrat Eduard Hirsch (1896-1989) und Innenminister Fritz Ulrich (1888-1969) eine Siedlung auf dem Amorbacher Feld an. Der Neckarsulmer Gemeinderat stimmte dem Bauvorhaben zu – unter der Voraussetzung, dass neben Vertriebenen, Flüchtlingen und Berufspendlern besonders auch Neckarsulmer Wohnungssuchende berücksichtigt werden würden.
Warum „Amorbach“?
Der Name für den neuen Stadtteil leitet sich vom Namen des Geländes ab, auf dem er steht: das „Amorbacher Feld“, das auf Neckarsulmer, Kochendorfer und Oedheimer Markung lag. Dieser Name wiederum verweist auf den ehemaligen Eigentümer des Geländes, das Kloster Amorbach im Odenwald. Dieses hatte aufgrund kirchlicher Rechte und umfangreichen Grundbesitzes Jahrhunderte lang großen Einfluss in Neckarsulm. 1805 wurden seine Besitzungen im Zuge der Säkularisierung zur Entschädigung deutscher Fürsten verwendet und kamen so an das Königreich Württemberg. Die Verbindung zum Kloster blieb nur durch den Namen der etwa 27 Hektar großen Fläche erhalten, auf der vor gut sieben Jahrzehnten mit den Bauarbeiten begonnen wurde.
Erster Spatenstich, Bau und Bundesmustersiedlung
Am 1. Mai 1953 nahm Innenminister Fritz Ulrich den ersten Spatenstich vor. Zu diesem Zeitpunkt waren die Straßen und Wege bereits beinahe fertiggestellt. Anschließend setzten die Hochbauarbeiten ein, die termingerecht abgeschlossen werden mussten, da viele Familien sehnlichst den Einzug in ihre neuen Wohnungen erwarteten.
Mit Unterstützung von Bund und Land, finanziert von der Stadt Neckarsulm entstand unter der Leitung von Architekt Helmut Erdle bis 1955 das damals größte Siedlungsbauvorhaben im Bundesgebiet. Im Oktober 1953 feierte man das allgemeine Richtfest für die 543 Wohnungen des ersten Bauabschnitts. Dabei erklärte ein Sprecher des Bundeswohnungsministeriums, Amorbach werde als Versuchsbauvorhaben des Bundes „wertvolle Erkenntnisse in architektonischer und bautechnischer Hinsicht bringen“ – Amorbach war nun also „Bundesmustersiedlung“. Im März 1954 begann der zweite Bauabschnitt für 239 Wohnungen in Doppel- und Reihenhäusern, außerdem wurden die Ladenzeile an der Amorbacher Straße, die Amorbachschule, die katholische Pax-Christi-Kirche und der Kindergarten errichtet.
Einweihung
Am Wochenende des 24./25. September 1955 wurde, bei schönstem Wetter, der festlich geschmückte neue Stadtteil eingeweiht. Zwei Wochen zuvor war am 10. September die katholische Pax-Christi-Kirche geweiht worden. Von den beteiligten Siedlungsgesellschaften und Architekten wurde der Fontänenbrunnen am Geschäftszentrum (Amorbacher Straße/Ecke Lautenbacher Straße) gestiftet und kurz vor der offiziellen Einweihungsfeier übergeben. Diese wurde von den Neckarsulmer Chören gestaltet. Bürgermeister Dr. Hoffmann, Landrat Eduard Hirsch, Architekt Herbert Endle, Innenminister Fritz Ulrich und Dr. Hermann Wandersleb, Staatssekretär des Bundeswohnungsbauministeriums, hielten Ansprachen. Zu den vielen Gästen zählten hochrangige Vertreter von Bund, Land und aller beteiligten Behörden und Betriebe. Am selben Tag wurden der Grundstein für die evangelische Heilig-Geist-Kirche gelegt sowie Schule und Kindergarten eingeweiht.
Das Ende des offiziellen Teils am Samstag bildete die ökumenische Dankesfeier in der Pax-Christi-Kirche. Danach feierten die rund 3.000 Gäste in der Turnhalle und einem Festzelt mit Unterhaltungsprogramm und Feuerwerk weiter. Sonntags folgte auf den Festgottesdienst ein Volksfest.
Teil der Stadt
Ab Oktober 1955 war der Stadtteil durch das öffentliche Busnetz regelmäßig mit der Innenstadt verbunden. Bereits Ende 1955 lebten mehr als 3.100 Menschen im neuen Stadtteil, fast die Hälfte stammte aus der Bundesrepublik und der DDR. Mehr als 50 Prozent waren Neubürger, davon kamen die meisten aus den südosteuropäischen Vertreibungsgebieten: Ungarn, dem Sudetenland, Bessarabien und der Dobrudscha, Schlesien und Ostpreußen, Jugoslawien, der Ukraine sowie aus Österreich und Italien.
Der Ministerialdirigent im Bundesministerium für Wohnungsbau lobte Amorbach 1958 als „Leistung besonders vorbildlichen Wohnungsbaues“. Ihm schienen „der Weitblick und der Mut bei der Gründung sowie die Besonnenheit und die Ausdauer, die den einmal gefassten Entschluss gegen alle Wiederstände zum Erfolg führten, besonders beispielhaft“ zu sein.
Erweiterung und Ausbau
Schon wenige Jahre später, Ende der 1950er Jahre und Ende der 1960er Jahre, wurde die Siedlung erweitert. 1967 lebten 3.700 Personen in Amorbach – durch den Wegzug der Jüngeren sank die Einwohnerzahl und erreichte 1989 ihren Tiefstand (2.485 Personen).
Für den Bau der Erweiterung „Amorbach II“ erwarb die Stadt 1990 von der Gemeinde Oedheim 51 Hektar Land. Da zu dieser Zeit landesweit wieder verstärkt Wohnraum für die Aus- und Umsiedler geschaffen wurde, bewarb sich die Stadt um eine Aufnahme in das Sonderprogramm „Wohnungsbauschwerpunkte“ des Landes, dem stattgegeben wurde.
Ab Oktober 1991 erfolgte der Ausbau auf Grundlage der Gesamtplanung der Siedlung von Architekt Ziltz (Büro Asplan) in der Trägerschaft einer Zweckgemeinschaft aus der Stadt Neckarsulm, dem Siedlungswerk Stuttgart, der Landesentwicklungsgesellschaft Baden-Württemberg sowie der Heimstättengenossenschaft Neckarsulm. Gebaut wurde alles von Reihen-, Doppel- und Einfamilienhäuser bis zu achtgeschossigen Mietwohnungsbauten, Schul- und Kindergartengebäude, eine Seniorenwohnanlage, ein Ladenzentrum und die Verwaltungsstelle. Durch die solarenergiegestützte Nahwärmeversorgung, einen Langzeit-Erdwärmespeicher und ein Nahwärmekonzept wurde die Erweiterung zu einer „ökologischen Mustersiedlung“ und dafür mit dem Deutschen Solarpreis 1989 und dem Umweltpreis des Landes Baden-Württemberg 1999 ausgezeichnet.
2012 bis 2018 folgte die letzte Erweiterung des Stadtteils mit verschiedenen Wohn- und Funktionsbauten. Zum 60. Geburtstag des Stadtteils wurde 2015 die „Neue Mitte“ mit einem Fest der Kulturen offiziell eingeweiht.
Amorbach heute
Heute leben mehr als 6.100 Personen unterschiedlicher Herkunft auf dem ehemaligen Amorbacher Feld. Mit Kindertagesstätten, Schulen, Kirchen, Seniorenzentrum, größeren und kleineren Ladengeschäften und Dienstleistungsbetrieben, der „Neuen Mitte“ und mehreren Vereinen bietet Amorbach vielfältige Möglichkeiten zum Wohnen und zur Freizeitgestaltung. Die „Grüne Mitte“ schafft naturnahen Erholungsraum für alle Altersstufen.
Damit ist Amorbach heute nicht nur Neckarsulms größter Stadtteil, sondern auch ein aktiver und engagierter Teil der Gesamtstadt. (Barbara Löslein, Vera Kreutzmann)